Autor*in: Mario Voge

E-Health: Woran krankt es in der Schweiz?

Seit dem 1. April 2020 sollte es in der Schweiz bereits das elektronische Patientendossier (EPD) flächendeckend geben – eigentlich. In der Realität sieht das freilich anders aus und das Projekt steckt noch immer in der Pilotphase fest. Eine Einführung noch in diesem Jahr ist unwahrscheinlich. Dabei sind die Verzögerungen bei der Digitalisierung kein originär eidgenössisches Problem, in Deutschland steht man vor fast identischen Problemen. Andere Länder sind dagegen schon ein beachtliches Stück weiter, Dänemark etwa mit seinem zentralen Portal „sundhed.dk“.

Wo stehen wir aktuell?

Eine erste E-Health-Strategie für die Schweiz stammt bereits aus dem Jahr 2007, es gibt also seit Längerem eine Beschäftigung mit dem Thema. Die Schweiz ist dabei als Vorreiter zu sehen, wenn wir uns beispielsweise Deutschland anschauen. Dennoch ist aus dem Zusammenspiel von kantonalem Föderalismus, datenschutzrechtlichen Bedenken, bürokratischen Prozessen, Uneinigkeiten zwischen den Leistungserbringern selbst und weiteren Faktoren eine Komplexität entstanden, die nur schwer zu durchdringen ist. Die Leistungserbringer haben sich (Stand heute) zu acht sogenannten Stammgemeinschaften zusammengeschlossen, von denen jede einzeln akkreditiert werden muss – das haben bisher nur zwei erreicht. Mittlerweile laufen die Zertifizierungsverfahren allerdings wieder. Auditierungen, Ressourcenengpässe und Unklarheiten im gesamten Verfahren der Prüfungen waren und sind dabei nicht förderlich. Die Technologien sind parat, ausserdem sind Dienstleister, Anbieter und Spitäler extrem heterogen in ihrer Liefer- und Empfangsbereitschaft. Bis zum Frühjahr 2021 soll tatsächlich jeder Schweizer ein EPD eröffnen können, so sieht es die aktuelle Roadmap vor. Es bleibt spannend.

Man muss hoffen, dass dieser neue Termin eingehalten wird und generell mehr Dynamik in das Thema digitales Gesundheitssystem kommt. Denn vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen ist E-Health kein Luxus, sondern pure Notwendigkeit. Das spielt sich einerseits auf der Makroebene ab: Die Schweiz hat heute schon eines der teuersten Gesundheitssysteme überhaupt und sieht sich wie nahezu alle Industrienationen mit einer alternden Gesellschaft konfrontiert. Angesichts von Kostendruck und wachsender Nachfrage nach Pflegeleistungen kann Automatisierung helfen, dieses Dilemma zu lösen. Wir können es uns in Zukunft schlicht nicht mehr leisten, knappe Personalressourcen mit routinemässigem, bürokratischem Aufwand zu verschwenden.

Auf der Mikroebene sind sowohl Arzt als auch Patient Individuen in einer digitalen Welt, die an komfortable Angebote und Dienstleistungen aus dem Netz gewöhnt sind. Mit diversen Apps und Gadgets dringt diese Welt zunehmend auch in Richtung Gesundheit vor. Was aber fehlt, ist die Schnittstelle zum „offiziellen“, staatlichen Gesundheitssystem. Es ist angebracht, die Frage zu stellen, wo eigentlich die ganzen Daten aus den smarten Devices liegen. Hier liegt es im Ermessen des Nutzers solche Angebote zu nutzen oder eben nicht. Ein anderes Problem, auf das Patienten dann keinen Einfluss mehr haben, ergibt sich, wenn Ärzte mangels Alternativen auf eigene Faust digitalisieren. Werden etwa Patienteninformationen „auf dem kurzen Dienstweg“ per Messenger oder eben durch das altbekannte Faxgerät an den befreundeten Kollegen übermittelt, braucht man über Datenschutz nicht mehr zu sprechen. Wir benötigen also sichere, institutionalisierte und kontrollierte Alternativen, die dem Patienten die volle Kontrolle geben – ohne ihrerseits in bürokratische Komplexität auszuarten.

Wo wollen wir hin?

In einem digitalen Gesundheitssystem der Zukunft werden wir Patienteninformationen zentral an einem Ort zur Verfügung stellen können. Die Vorteile hierfür liegen klar auf der Hand: Patienten, deren bevollmächtigte Angehörige oder Vertretungen als auch Spitäler und Ärzte (sofern diese die Freigabe vom Patienten erhalten) können komplett digital und sicher auf die gesamte Krankenhistorie und Dokumentation zugreifen. Dadurch können dann nicht nur Diagnosen, Befunde und Abschlussberichte eingesehen, sondern auch Medikamentenpläne, Therapieinformationen und Rezepte bereitgestellt werden. Eine zentralisierte Sammlung von Patientendokumenten ist besonders interessant für Menschen, bei denen es zu Komplikationen in Bezug auf Vollständigkeit und Ordnung ihrer Dokumentation kommen kann, wie bei älteren oder an Demenz erkrankten Patienten.

Patienten haben darüber hinaus die Möglichkeit, Verfügungsinformationen im EPD zu hinterlegen, in denen u. a. Notfallkontakte oder Informationen zu Krankheiten oder Allergien, die für die Ersthilfe relevant sind, gespeichert werden können. Der schnelle On-Demand-Zugriff erlaubt es, die Dokumente des einen behandelnden Arztes verzugslos für einen anderen verfügbar zu machen. Dies soll möglichen Mehrfachdiagnosen und -behandlungen durch unterschiedliche Ärzte vorbeugen, was nicht nur einem besseren Überblick dient, sondern auch überflüssige, vermeidbare Behandlungs- und Therapiekosten einspart. Auf diese Weise entfallen ausserdem sämtliche Bearbeitungs- und Versandkosten. Rezepte können Patienten ganz bequem auf eine App übermittelt bekommen oder sie werden direkt in die Apotheke der Wahl geschickt – in Echtzeit. Wir sehen schon heute einzelne Entwicklungen in die Richtung, dass Krankenversicherungen die Kosten für bestimmte Apps oder Gadgets übernehmen. Das liesse sich noch weiter ausbauen, inklusive deren Datenintegration in das EPD. Jedoch steckt dieser gesamtheitliche Ansatz noch in den Kinderschuhen, da die entsprechenden Anreize zu gering für alle beteiligten Stakeholder ausfallen oder gar nicht alle Stakeholder (z. B. Krankenversicherungen) in diese Vision eingebunden worden sind.  Der eigentliche Gewinner sind die Krankenversicherungen, da sie bei den Kosteneinsparungen partizipieren werden.

Sichere Identifikation und Zwei-Faktor-Authentisierung: Zwei zentrale Stützpfeiler von E-Health

Man darf sich keiner Illusion hingeben: Je mehr Daten sich im Netz befinden, desto mehr Potenzial für Missbrauch gibt es. Daher ist es so wichtig, dass wir bei allen Überlegungen hinsichtlich User Experience für Patienten niemals die Sicherheit vernachlässigen und hier auf starke Lösungen zur eindeutigen Identifikation der Patienten setzen, ebenso wie auf eine zweifelsfrei nachvollziehbare Dokumentation. Einerseits wird der Zugriff auf das EPD durch verfügbare Verfahren für das Identifikationsmittel reguliert, andererseits müssen medizinische Dokumente wie Überweisungen oder elektronische Rezepte zweifelsfrei einem Aussteller zugeordnet werden können, um Betrug zu verhindern. Hier kommen Lösungen einer sicheren Zwei-Faktor-Authentisierung und einer qualifizierten elektronischen Signatur für die geprüfte Echtheit eines Dokumentes ins Spiel.

Im Kontext der nicht EPD relevanten Prozesse, die es weiterhin in Spitälern und bei niedergelassenen Ärzten gibt, können die Leistungserbringer schon heute moderne Prozesse etablieren, die nicht zwingend das EPD voraussetzen. Das bezieht sich u. a. auf „B2B-Transaktionen“ zwischen Spitälern und/oder Fachärzten, Laboren und anderen Forschungsinstitutionen. Hier lassen sich heute schon digitale Prozesse aufsetzen, die die Abläufe im Gesundheitswesen so optimieren, dass Kosten gesenkt und Effizienz gesteigert werden können.