Europa bewegt sich stetig auf eine Gesundheitsunion zu. Anders als der Titel vermuten lässt, geht es dabei nicht um die Vereinheitlichung und Standardisierung aller Gesundheitssysteme in der EU. Ein solches paneuropäisches Gesundheitskonzept ist jedoch interessant zu erforschen – also los geht’s!
Gemäss Artikel 168 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union fallen die öffentliche Gesundheit und die Gesundheitspolitik in die Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten. Während diese die medizinischen und versicherungstechnischen Leistungen festlegen und erbringen, fungiert die EU nur als unterstützende Instanz und kann sich nicht auf nationaler Ebene einmischen. Diese rechtliche Vorgabe ist der Grund, warum kein einheitliches Gesundheitssystem eingeführt werden kann.
Die Qualität der Gesundheitsversorgung variiert jedoch von einem Mitgliedstaat zum anderen. Der sichere und unmittelbare Zugang zur Gesundheitsversorgung kann einschränkend sein. Die Verbesserungen und die Digitalisierung schreiten in unterschiedlichem Tempo voran. Laut der offiziellen EU-Studie «2030 Digital Decade: eHealth Indicator Study» sind einige Länder in Sachen E-Health bereits weit fortgeschritten, während andere noch in den Anfängen stecken.
Wäre es nicht sinnvoller, ein einheitliches, paneuropäisches Gesundheitssystem zu schaffen?
Das Konzept eines einzigen umfassenden, grenzüberschreitenden Gesundheitssystems wäre nicht nur ein bedeutender Schritt in Richtung einer engeren Integration der Mitgliedstaaten, sondern bietet auch eine breite Palette zusätzlicher Vorteile:
Freier Zugang zur Gesundheitsversorgung – überall: EU-Bürger könnten in allen EU-Mitgliedsstaaten Zugang zu medizinischen Leistungen mit gleichbleibend hoher Qualität und geringeren bürokratischen Hürden erhalten. Dies käme insbesondere Menschen in wirtschaftlich schwachen Ländern, Touristen und Menschen, die regelmässig Grenzen überschreiten, zugute.
Einheitliche medizinische Standards: Dieses Gesundheitssystem würde die medizinische Versorgung und die Qualitätssicherung harmonisieren und eine stärkere Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedsstaaten in Bezug auf Forschung, Entwicklung und Widerstandsfähigkeit erleichtern.
Nahtlose Nutzung und Optimierung von Ressourcen: Personalengpässe, fehlendes Fachwissen und medizinische Geräte könnten europaweit effizient kompensiert werden.
Last but not least: Digitalisierung und Datenaustausch: Ein interoperables Gesundheitsdatensystem würde den EU-weiten Austausch von Patientendaten unterstützen und die Koordination der medizinischen Behandlung verbessern. Ferner würde die Vereinheitlichung digitaler Verwaltungsprozesse wie Authentifizierung und Unterschriften den bürokratischen Aufwand verringern und dem medizinischen Personal mehr Zeit für die Patientenversorgung geben.
Mehrere Faktoren machen die Umsetzung dieses Konzepts unmöglich, wenn sie nicht angemessen berücksichtigt werden:
Verlust der Souveränität: Eine zentrale EU-Behörde würde u. a. über Gesundheitsbudgets, Kostenerstattungen, Impfstrategien und Krankenversicherungsmodelle mitentscheiden. Das bedeutet, dass die Mitgliedsstaaten ihre Souveränität in diesem Bereich aufgeben müssten, was auf Widerstand stossen könnte. Ob alle Mitgliedsstaaten bereit wären, die notwendigen Kooperations- und Reformvereinbarungen einzugehen, ist fraglich.
Unterschiedliche Finanzierungs- und Versicherungsmodelle: Die Harmonisierung und Vereinheitlichung der unterschiedlichen Versicherungsmodelle, Beiträge und Erstattungsstrukturen in jedem der 27 Mitgliedstaaten wäre äusserst komplex und eine finanzielle Herausforderung. Ebenso müsste die EU-Kommission ein Solidaritätspaket zur Unterstützung wirtschaftlich schwacher Länder schnüren, das möglicherweise durch Steuern finanziert wird.
Gesundheitstourismus: Die Aussicht auf günstigere und bessere Angebote und Leistungen oder kürzere Wartezeiten in anderen Mitgliedsstaaten könnte das Risiko des Gesundheitstourismus erhöhen. Dies erhöht unweigerlich die Belastung der jeweiligen Systeme.
Unterschiedliche Arbeits- und Ausbildungsbedingungen, Sprachbarrieren und kulturelle Unterschiede: Qualifikationsniveaus, Arbeitszeiten und Löhne für medizinische Fachkräfte sind unterschiedlich. Die durch einen gemeinsamen Arbeitsmarkt verursachte Abwanderung von Fachkräften könnte den Personalmangel noch verschärfen. Gleichzeitig werden internationale Qualifikationen nur in begrenztem Umfang anerkannt, sodass eine Harmonisierung der Ausbildung und der Anforderungen notwendig ist. Darüber hinaus würden Sprachbarrieren die Kommunikation zwischen Ärzten und Patienten erschweren, und kulturelle Erwartungen könnten die Akzeptanz eines einheitlichen Gesundheitssystems trüben.
Auch wenn das Gesetz die Kommission daran hindert, ein einheitliches Gesundheitssystem in der gesamten EU zu schaffen, bedeutet dies nicht, dass sie untätig bleibt. Die Mitgliedstaaten unterstützen die politischen Strategien und Massnahmen der Mitgliedstaaten zur Förderung der Gesundheit in der EU, zur Verbesserung des Schutzes, der Prävention, der Vorsorge und der Reaktion auf Gesundheitsgefahren.
Die von Ursula von der Leyen im Jahr 2020 vorgeschlagene Gesundheitsunion – ein Rahmen für das Gesundheitswesen – zielt darauf ab, die Katastrophenvorsorge zu stärken und die nationalen Gesundheitssysteme widerstandsfähiger und zugänglicher zu machen, da die Pandemie gezeigt hat, wie anfällig diese sind. Seitdem wurden mehrere Rechtsvorschläge vorgelegt und angenommen, um die Gesamtstrategie und die Ergebnisse der Gesundheitsversorgung zu verfeinern.
Bekämpfung transnationaler Gesundheitsbedrohungen: Dazu gehören die Stärkung des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) und der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) sowie die Einrichtung der Europäischen Behörde für Notfallvorsorge und -bewältigung im Gesundheitswesen (HERA) im Jahr 2021. Letztere konzentriert sich auf die Verbesserung der EU-Koordinierung der Gesundheitssicherheit vor und während (Gesundheits-)Krisen.
Bekämpfung weitverbreiteter Krankheiten und medizinischer Zustände: Der europäische Plan zur Krebsbekämpfung zielt darauf ab, die Krebsprävention und -früherkennung zu erleichtern. Darüber hinaus unterstützt die EU die Entwicklung von Massnahmen zur Bekämpfung der antimikrobiellen Resistenz sowie die Aufklärung über und den Zugang zu psychischen Gesundheitsressourcen.
Reform des EU-Arzneimittelrechts: Die EU ist der Ansicht, dass alle Patienten den gleichen rechtzeitigen Zugang zu Arzneimitteln haben sollten. Daher will die Kommission den Arzneimittelsektor modernisieren und Medikamente besser zugänglich und erschwinglich machen. Die jüngste Entwicklung ist der Vorschlag des Critical Medicines Act vom März dieses Jahres.
Digitalisierung und Schaffung eines europäischen Gesundheitsdatenraums: Eines der Hauptziele der Gesundheitsunion ist die Schaffung eines europäischen Gesundheitsdatenraums. Zunächst sollen die nationalen Infrastrukturen in ganz Europa miteinander verbunden werden, um eine gesamteuropäische Infrastruktur zu schaffen, die einen einheitlichen, sicheren und effizienten grenzüberschreitenden Zugang, Gebrauch und Austausch von Gesundheitsdaten sowohl für die Gesundheitsversorgung als auch für die Forschung ermöglicht.
Darüber hinaus arbeitet die EU derzeit an der Einführung grenzüberschreitender elektronischer Gesundheitsdienste. Die meisten Mitgliedstaaten bieten bereits elektronische Rezepte an, die es den EU-Bürgern ermöglichen, ihre Rezepte einzureichen und Medikamente überall in der EU zu erhalten. Allmählich werden auch Patientenzusammenfassungen – eine kürzere Version der elektronischen Gesundheitsakte – übermittelt, die alle relevanten Informationen über ausländische Patienten in der Muttersprache des Arztes enthalten. Bis 2030 sollen alle EU-Bürger Zugang zu einer umfassenden elektronischen Gesundheitsakte haben.